Gefühle in Bewegung (5): Gefühle sind Muskelarbeit

Ich möchte nun einige konkrete emotionale Wirkungen zeigen, die zu erwarten sind, wenn sich die Bewegungskompetenz in eine bestimmte Richtung verbessert. Diese Wirkungen beruhen auf meinen persönlichen und beruflichen Erfahrungswerten als Alexander-Technik-Coach und sind selbstverständlich nicht für jeden genau gleich. Außerdem hat die Verbesserung des Bewegungsverhaltens die Tendenz, jene Gefühle zuerst zu Bewusstsein kommen zu lassen, deren muskuläre „Knebelung“ jüngeren Datums ist, während länger bestehende Fehlspannungen meist langsamer „auftauen“. So erleben Menschen, die etwa in ihrem beruflichen Alltag stark gestresst sind, durch eine Regulierung ihres Muskeltonus mal ein Gefühl der Leichtigkeit oder der Schwere, mal ein Gefühl der Energie oder der Müdigkeit, je nachdem, welches Bedürfnis den dringendsten Nachholbedarf hat.

In all dem, was ich jetzt beschreibe, geht es nicht darum, Gefühle durch Bewegungen zu provozieren, sondern durch Bewegung im ganzen Körper günstige Rahmenbedingungen für den emotionalen Prozess zu schaffen. Gefühle kommen von selbst – wenn wir sie nicht stören.

Knochen machen sicher: Wenn eine Person sich die unterstüztende Kraft ihrer Knochen vergegenwärtigt, dann erlebt sie meist ein Gefühl der Stabilität und damit der Sicherheit und Erdverbundenheit. Dies kann besonders in Stress-Situationen eine willkommene Unterstüzung sein.

Gelenke machen leicht und lustig: Wenn man sich die Dynamik der Gelenke bewusst macht und ihr in seinen Bewegungen folgt, dann tauchen fast von selbst Empfindungen der Leichtigkeit, der Freiheit und Wendigkeit, ja der Verspieltheit und Freude auf. Dies hebt nicht nur die Lebenslust, sondern ist in Situationen besonders hilfreich, in denen Sie viel Kreativität und mentale Beweglichkeit brauchen.

Muskeln machen gelassen und kraftvoll: Das Bewusstsein für die wechselnde Spannung der Muskeln erzeugt oft ein Erleben von Gelassenheit, zugleich aber auch von Macht und Wirksamkeit. Dabei ist aber notwendig, die Muskeln nicht nur in ihrer Fähigkeit zur Anspannung anzusprechen, sondern auch zur Entspannung. Besonders wenn wir arbeiten oder sonst aktiv sind, ist es für unsere Ausgeglichenheit und innere Ruhe entscheidend, dass unsere Muskeln nicht nur Macher sind, sondern auch mal abwarten und Spannung abbauen können.

Gehen wir nun einen Schritt weiter. Bewegung entsteht ja nicht aus dem zufällig gleichzeitigen Wirken vereinzelter Teile, sondern aus einem koordinierten Zusammenspiel. Unser Körper ist wie ein Orchester, das aus verschiedenen Instrumenten besteht, die von einem Dirigenten – unserem Denken – gelenkt werden. Dabei spielen die verschiedenen Körperteile eine besondere Rolle.

Der Kopf sitzt oben auf und ist der Souverän, von dem die Selbstbehauptung ausgeht. Hier ist ein wichtiges Wahrnehmungs- und Kommunikationszentrum. Der Kopf balanciert in bester Lage mit Weitblick und Umsicht, er ist wesentlich für unser Gleichgewicht und unsere Orientierung im Raum.

Die Wirbelsäule ist die strukturierende Achse, die uns trägt und einen Organraum schafft, in dem die weichen Organe Platz und Halt finden. Sie ist zugleich eine Kommunikationspipeline, die alle Botschaften vom Gehirn zur Peripherie und auch wieder zurück leitet.  Der Rumpf ist ein großer Organraum, mit einer Besonderheit im oberen Teil, dem Brustkorb. Er schützt nicht nur Herz und Lungen, sondern sorgt mit den ryhthmischen Bewegungen der Rippen für die Grunddynamik der Atembewegung – eine elegante Lösung, wenn man bedenkt, dass die Atmung sensibel auf bewegungsbedingte Veränderungen im Sauerstoffbedarf  reagieren muss.

Die Beine und Füße dienen der beweglichen Unterstützung und der Fortbewegung. Der Körper balanciert auf relativer kleiner Grundfläche, was ihm das Gehen erleichtert, denn das Körpergewicht kann leicht als Bewegungsmotor eingesetzt werden. Im aufrechten Stand ist alles, was wir zu tun haben, um von der Stelle zu kommen, loszulassen und schon setzt sich der Körper in Bewegung. Schultern, Arme und Hände haben keine direkte Fortbewegungsfunktion und genießen deswegen alle Freiheit, Kontakt mit Gegenständen und Menschen aufzunehmen, zu spüren, zu tasten, zu gestalten und formen.

Diese funktionellen Bewegungsregionen sind für unsere Gefühle von Bedeutung. Becken, Beine und Füße vermitteln Stabilität und damit Sicherheit. Die Arme und Hände geben uns eine Gefühl von Freiheit und Gestaltungskraft. Es ist ein gutes Gefühl, „freie Hand“ zu haben. Wer zuviel Last auf den Schultern trägt, fühlt sich gedrückt. Der Kopf hoch oben vermittelt Präsenz und Souveränität. Zusammen mit der Wirbelsäule erschließt der Kopf uns Selbstbewusstsein und Stärke. Wer mit seinem  Atem im Kontakt ist, erlebt seine Gefühle differenzierter und tiefer. Wer seine Augen fließend bewegt und den besonders in Stress-Situationen so typischen „starren Blick“ vermeidet, der erlebt eine gesunde Distanz zum Geschehen und zum eigenen Handeln.

All diese speziellen Wirkungen beruhen darauf, dass wir im Körperganzen gut koordiniert sind. Die Aufmerksamkeit für das dynamische Zusammenspiel der Körperteile und ihre effizienten Steuerung erzeugt ein Erleben von guter Kontrolle, Sammlung und Klarheit. Man fühlt sich ausgeglichen, aufgeräumt und handlungsbereit.

Aufs Ganze gesehen, vermittelt uns gute Bewegung eine grundlegende Erfahrung, die auch für unser Gefühlsleben wichtig ist. Ich spreche von der Erfahrung, dass ein Mensch sich den Raum nehmen kann, den er braucht. Jeder Mensch braucht Raum für sich und sein Denken und Handeln. Wir müssen „aufgehen“ können in dem, was wir tun. Wir müssen uns ungehindert „gehen lassen“ dürfen. Jeder Prozess der Entwicklung und Entfaltung sowohl körperlich als auch geistig setzt raumgreifende Bewegungen voraus. Angst ist mit einem Zusammenziehen und Verengen des Körpers verbunden, Vertrauen hingegen mit einer Ausdehung des Körpers in den Raum hinein. Wer Ängste überwinden will, wird es deswegen wertvoll finden, sich in seinen Bewegungen ausreichend Raum zu geben.

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