Gefühle in Bewegung (6): Gefühle zulassen, ohne sich mitreißen zu lassen

Wann haben Sie zum letzten Mal hemmungslos herumgealbert? Ich hoffe, es ist nicht allzu lange her. Das Schöne an der Ausgelassenheit ist, dass wir etwas tun, bevor wir es verstehen können. Es macht Spaß, sich so gehen zu lassen. Wenn Gefühle jedoch unser Leben schwer machen – Sorgen, Ängste, Zweifel, Schuldgefühle etc. -, kann es sehr nützlich sein, sich nicht sofort mit den Gefühlen gehen zu lassen.

Ich möchte Ihnen nun einen abgestuften Umgang mit Gefühlen vorschlagen. Dieser Prozess beachtet die natürliche Wildheit und Eigenwilligkeit von Gefühlen. Es geht also nicht darum, Gefühle zu „beherrschen“. Andererseits wollen wir schauen, ob es nicht Wege gibt, die Information und die Energie, die in ihnen steckt, zu nutzen, ohne uns von ihnen blind mitreißen zu lassen.

Das Erste, was wir mit Gefühlen „machen“ können, ist sie zu bemerken und zu beachten – in ihrer fühlbaren Qualität, in ihrem Verlauf und in ihrer Richtung. Wir müssen sie nicht sofort verstehen – sie zu erleben ist zunächst das, was zählt.

Doch präsentiert sich uns hier gleich eine gewaltige Schwierigkeit: die schon beschriebene Schnelligkeit und Intensität der Gefühle, die uns zur Aktion drängt. Wir kennen das alle: binnen Sekunden sind wir geladen, tief enttäuscht oder begeistert. Sofort wollen wir die dazu passende Handlung ausführen: den Teller auf den Fußboden schmeißen, uns verkriechen oder jemanden stürmisch umarmen. Wir wollen schließlich irgendwo hin mit unserer Energie!

Es ist klar, dass wir, wenn wir das zulassen, keine Chance haben, die unserem Gefühl zugrundeliegende Bewertung der Situation zu prüfen. Es geht einfach zu schnell. Zeit ist aber, was wir brauchen, um unser Gefühl bewusst zu erleben und zu verstehen. Manche Gefühle übertragen wir aus der Vergangenheit in die Gegenwart, ohne genau darauf zu achten, ob diese emotionsgelandene Gleichung auch aufgeht. Früher mögen diese Gefühle angemessen gewesen sein – heute können sie irreführend sein. Denken Sie daran, wie Sie auf Kritik reagieren, wie Sie mit Erfolgen umgehen, welche Ansprüche Sie an sich stellen, wie Sie sachlich-distanzierten oder überschwänglichen Menschen begegnen. Ihre „normale“ Art zu reagieren, hat möglicherweise mit der aktuellen Situation wenig zu tun, und dann ist es gut, wenn Sie zu Ihren Gefühlen Distanz aufbauen können.

Wie können wir diese Zeit gewinnen und wie können wir die Wildheit der Gefühle zähmen, ohne sie zu unterdrücken? Können Gefühle warten, bis der Verstand Zeit bekommen hat, sie zu analysieren und zu bewerten? Hier kommt wieder Ihr Bewegungssinn ins Spiel. Sie können zwar nicht verhindern, dass in einer konkreten Situation ein bestimmtes Gefühl plötzlich auftaucht. Das emotionale Ereignis geschieht ohne Ihr bewusstes Zutun. Aber wie Sie dann mit sich und dem Gefühl umgehen, lässt sich sehr wohl steuern.

Die Idee: Lassen Sie die spontane Bewegung des Erlebens zu, aber schieben Sie jegliche Handlungsbewegung auf. Sagen Sie Ihren Muskeln, dass Sie jetzt erstmal nichts zu tun haben, wie wenn Sie an einer roten Ampel stehen und sich auf eine kleine Wartezeit einrichten. Sorgen Sie während dieses Prozesses dafür, dass Ihr ganzer Körper beweglich ist, denn während Sie Ihr Gefühl erleben, ohne direkt zu handeln, flutet eine Menge neuer Informationen durch Ihr Bewusstsein und die Körperpräsenz hilft Ihnen, diesen Stress zu verkraften. So könnten Sie zum Beispiel, wenn Sie im ersten Ansturm eines wütenden Gefühls sofort etwas unternehmen wollen, innehalten und das Gefühle „durchrauschen“ lassen. Alle möglichen Stimmen melden sich in Ihnen – solche, die die Wut rechtfertigen, vielleicht aber auch andere, die eine andere Sicht vermitteln.

Kommen Sie dann mit sich ins Gespräch und versuchen Sie herauszufinden, welche Bedeutung das hat, was Sie da wahrgenommen haben. Geben Sie Ihrem Körper und damit auch der emotionalen Raum immer wieder Raum. Gefühle können nicht verstanden werden, bevor Sie gefühlt und erlebt werden. Gefühle klarer zu erleben, heißt jedoch nicht, sie direkt auszuleben. Benutzen Sie auch Ihr Denken, klären Sie, ob Ihre Wahrnehmung wirklich der Realität entspricht. Wenn Sie finden, dass Ihr Ärger gerechtfertigt ist, können Sie ihn immer noch ausdrücken, aber möglicherweise wird Ihnen klar, dass die aktuelle Situation doch ein wenig anders gelagert ist, als es Ihren Gefühlen im ersten Moment erschien.

Dieser ganze Prozess darf nicht erzwungen werden, sondern erfodert dynamische Präsenz und  energievolle Gelassenheit. Die Fähigkeit zum gelassenen Abwarten lässt sich erlernen. Je besser Sie die Dynamik Ihrer Muskeln kennenlernen, desto leichter wird es Ihnen fallen, auch in hochemotionalen Situationen nicht den Kopf zu verlieren, sondern mit Ihren Gefühlen zu kommunizieren, statt ihnen blind zu folgen.

In Heines Gedicht heißt es am Schluss:

 

Den Schiffer im kleinen Schiffe

Ergreift es mit wildem Weh;

Er schaut nicht die Felsenriffe,

Er schaut nur hinauf in die Höh.

 

Ich glaube, die Wellen verschlingen

Am Ende Schiffer und Kahn;

Und das hat mit ihrem Singen

Die Lore-Ley getan.

Sie sehen, Gefühle können uns an der Nase herumführen. Es ist wichtig, sie zu bewusst zu erleben und sie als Informationsquelle zu nutzen, dabei aber den Kopf nicht zu verlieren. Unser Selbst funktioniert als Ganzes, emotionale Erfahrungen sind immer mit körperlichen Erfahrungen verbunden. Deswegen können ungünstige Bewegungsmuster unsere Fähigkeit einschränken, unser Denken konstruktiv einzuschalten, wenn wir von starken Gefühlen beeinflusst werden.

Ich glaube, es ist eine gute Idee, wenn wir anfangen, der Bewegung des Lebens in uns in all seinen Formen noch mehr zu vertrauen. Denn erst dann haben wir eine echte Chance, die Richtung, in die sie uns trägt, mitzubestimmen.

 (Ende der Serie)

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