In einem alten Gruselfilm entdecken Polarforscher tiefgefroren im Eis ein unbekanntes Wesen. Neugierig verfrachten sie den Eisblock samt Inhalt in ihre gut geheizte Forschungsstation. Es dauert Tage, bis der mächtige Eisblock abtaut, und siehe da, das eingeforene Wesen erwacht zum Leben und zeigt sich als fieses Monster, das nichts anderes im Sinne hat, als Polarforscher anzugreifen. Und so zieht sich der Film in düsterem Schwarzweiß seine 90 Minuten hin, bis das Monster besiegt und die Forscher in Sicherheit sind.
Ich glaube, mir fiel der Film wieder ein, als ich irgendwo las, dass Muskelblockaden „abtauen“ und „schmelzen“ müssen, damit die darin gebundene Energie wieder frei fließen kann. Was aber wird frei, wenn das zuvor Gebundene entfesselt, das Gehaltene gelassen und das Eingefrorene abgetaut wird? In meiner spontanen Fantasie tauchte da gleich das Bild von dem Monster aus dem Eis auf – und brachte mich zum Nachdenken.
Die Angst vor dem Unbekannten ist der Stoff unzähliger Filme, Geschichten und Mythen. Die Angst davor, was passiert, wenn wir es wagen, das Eis abzutauen. Und allzu oft transportieren sie diese Warnung, dass es gefährlich ist, sich zu weit hinauszuwagen, denn „da draußen“ lauert das Böse: der Wolf im dunklen Wald, der Alien im Weltraum, das Monster im Eis. Und wir fallen immer wieder darauf herein. Wir meinen, wir sind in Sicherheit, hier in unserem Leben, wie wir es kennen, und es kann uns erst richtig was Schlimmes passieren, wenn wir unser gewohntes Leben verlassen. So als wäre hier – in uns selbst, in unserem vertrauten Lebensumfeld – alles in Ordnung und unter Kontrolle. Wehe dir, wenn du es wagst, deine Sicherheit aufzugeben!
Da fällt mir jetzt das Märchen von dem Esel, dem Hund, dem Hahn und der Katze ein, die – nutzlos für den Menschen geworden – ihren sicheren Tod vor Augen haben und beschließen, abzuhauen und was ganz Verrücktes zu machen, nämlich Stadtmusik in Bremen. Die glorreichen Vier brechen auf, weil sie es nicht mehr aushalten. Das Böse droht ihnen nicht da draußen, sondern hier. Und so machen sie sich verzweifelt-mutig auf die Reise. Ihr Motto: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“
Die Bremer Stadtmusikanten kommen nicht in Bremen an, aber das macht nichts, denn sie finden was viel Besseres: ein schönes Häuschen im Wald, das sie einer Räuberbande mit gezieltem Terror abluchsen. Indem sie sich – der Esel unten, dann der Hund, darauf die Katze und oben der Hahn – zu einer großen Gestalt aufrichten, jagen sie den Räubern eine Heidenangst ein und vertreiben sie aus dem Häuschen im Wald. Die Bremer Stadtmusikanten führen eine Parodie des bösen Monsters auf, und die Räuber fallen darauf herein.
Dieses wunderbare Märchen klärt uns darüber auf, dass das Gefährliche nicht so sehr jenseits des bekannten Lebens beginnt, sondern bereits hier und jetzt, genau hier, wo wir es uns in unserem Leben so gut eingerichtet haben. Wir projizieren unsere Ängste und Nöte gerne in „die böse Welt da draußen“ und kaschieren damit die untergründige Nähe und Gegenwart all des Gefesselten und Eingefrorenen in uns. In diesem Zustand sind wir wie die Räuber im Wald: wir sehen Gespenster, wo keine sind.
Wir halten an unseren Sicherheiten fest und spüren gar nicht mehr, wie sie uns einengen und die Luft zum Atmen rauben. Wir erfinden die Monster im Eis, die bösen Außerirdischen und die Terroristen, weil wir Angst haben, aber nicht zugeben wollen, dass es unser eigenes Leben ist, das uns Angst macht – dass wir selbst es sind, die uns erschrecken.