Archive for Oktober, 2011

Gefühle in Bewegung (6): Gefühle zulassen, ohne sich mitreißen zu lassen

Montag, Oktober 3rd, 2011

Wann haben Sie zum letzten Mal hemmungslos herumgealbert? Ich hoffe, es ist nicht allzu lange her. Das Schöne an der Ausgelassenheit ist, dass wir etwas tun, bevor wir es verstehen können. Es macht Spaß, sich so gehen zu lassen. Wenn Gefühle jedoch unser Leben schwer machen – Sorgen, Ängste, Zweifel, Schuldgefühle etc. -, kann es sehr nützlich sein, sich nicht sofort mit den Gefühlen gehen zu lassen.

Ich möchte Ihnen nun einen abgestuften Umgang mit Gefühlen vorschlagen. Dieser Prozess beachtet die natürliche Wildheit und Eigenwilligkeit von Gefühlen. Es geht also nicht darum, Gefühle zu „beherrschen“. Andererseits wollen wir schauen, ob es nicht Wege gibt, die Information und die Energie, die in ihnen steckt, zu nutzen, ohne uns von ihnen blind mitreißen zu lassen.

Das Erste, was wir mit Gefühlen „machen“ können, ist sie zu bemerken und zu beachten – in ihrer fühlbaren Qualität, in ihrem Verlauf und in ihrer Richtung. Wir müssen sie nicht sofort verstehen – sie zu erleben ist zunächst das, was zählt.

Doch präsentiert sich uns hier gleich eine gewaltige Schwierigkeit: die schon beschriebene Schnelligkeit und Intensität der Gefühle, die uns zur Aktion drängt. Wir kennen das alle: binnen Sekunden sind wir geladen, tief enttäuscht oder begeistert. Sofort wollen wir die dazu passende Handlung ausführen: den Teller auf den Fußboden schmeißen, uns verkriechen oder jemanden stürmisch umarmen. Wir wollen schließlich irgendwo hin mit unserer Energie!

Es ist klar, dass wir, wenn wir das zulassen, keine Chance haben, die unserem Gefühl zugrundeliegende Bewertung der Situation zu prüfen. Es geht einfach zu schnell. Zeit ist aber, was wir brauchen, um unser Gefühl bewusst zu erleben und zu verstehen. Manche Gefühle übertragen wir aus der Vergangenheit in die Gegenwart, ohne genau darauf zu achten, ob diese emotionsgelandene Gleichung auch aufgeht. Früher mögen diese Gefühle angemessen gewesen sein – heute können sie irreführend sein. Denken Sie daran, wie Sie auf Kritik reagieren, wie Sie mit Erfolgen umgehen, welche Ansprüche Sie an sich stellen, wie Sie sachlich-distanzierten oder überschwänglichen Menschen begegnen. Ihre „normale“ Art zu reagieren, hat möglicherweise mit der aktuellen Situation wenig zu tun, und dann ist es gut, wenn Sie zu Ihren Gefühlen Distanz aufbauen können.

Wie können wir diese Zeit gewinnen und wie können wir die Wildheit der Gefühle zähmen, ohne sie zu unterdrücken? Können Gefühle warten, bis der Verstand Zeit bekommen hat, sie zu analysieren und zu bewerten? Hier kommt wieder Ihr Bewegungssinn ins Spiel. Sie können zwar nicht verhindern, dass in einer konkreten Situation ein bestimmtes Gefühl plötzlich auftaucht. Das emotionale Ereignis geschieht ohne Ihr bewusstes Zutun. Aber wie Sie dann mit sich und dem Gefühl umgehen, lässt sich sehr wohl steuern.

Die Idee: Lassen Sie die spontane Bewegung des Erlebens zu, aber schieben Sie jegliche Handlungsbewegung auf. Sagen Sie Ihren Muskeln, dass Sie jetzt erstmal nichts zu tun haben, wie wenn Sie an einer roten Ampel stehen und sich auf eine kleine Wartezeit einrichten. Sorgen Sie während dieses Prozesses dafür, dass Ihr ganzer Körper beweglich ist, denn während Sie Ihr Gefühl erleben, ohne direkt zu handeln, flutet eine Menge neuer Informationen durch Ihr Bewusstsein und die Körperpräsenz hilft Ihnen, diesen Stress zu verkraften. So könnten Sie zum Beispiel, wenn Sie im ersten Ansturm eines wütenden Gefühls sofort etwas unternehmen wollen, innehalten und das Gefühle „durchrauschen“ lassen. Alle möglichen Stimmen melden sich in Ihnen – solche, die die Wut rechtfertigen, vielleicht aber auch andere, die eine andere Sicht vermitteln.

Kommen Sie dann mit sich ins Gespräch und versuchen Sie herauszufinden, welche Bedeutung das hat, was Sie da wahrgenommen haben. Geben Sie Ihrem Körper und damit auch der emotionalen Raum immer wieder Raum. Gefühle können nicht verstanden werden, bevor Sie gefühlt und erlebt werden. Gefühle klarer zu erleben, heißt jedoch nicht, sie direkt auszuleben. Benutzen Sie auch Ihr Denken, klären Sie, ob Ihre Wahrnehmung wirklich der Realität entspricht. Wenn Sie finden, dass Ihr Ärger gerechtfertigt ist, können Sie ihn immer noch ausdrücken, aber möglicherweise wird Ihnen klar, dass die aktuelle Situation doch ein wenig anders gelagert ist, als es Ihren Gefühlen im ersten Moment erschien.

Dieser ganze Prozess darf nicht erzwungen werden, sondern erfodert dynamische Präsenz und  energievolle Gelassenheit. Die Fähigkeit zum gelassenen Abwarten lässt sich erlernen. Je besser Sie die Dynamik Ihrer Muskeln kennenlernen, desto leichter wird es Ihnen fallen, auch in hochemotionalen Situationen nicht den Kopf zu verlieren, sondern mit Ihren Gefühlen zu kommunizieren, statt ihnen blind zu folgen.

In Heines Gedicht heißt es am Schluss:

 

Den Schiffer im kleinen Schiffe

Ergreift es mit wildem Weh;

Er schaut nicht die Felsenriffe,

Er schaut nur hinauf in die Höh.

 

Ich glaube, die Wellen verschlingen

Am Ende Schiffer und Kahn;

Und das hat mit ihrem Singen

Die Lore-Ley getan.

Sie sehen, Gefühle können uns an der Nase herumführen. Es ist wichtig, sie zu bewusst zu erleben und sie als Informationsquelle zu nutzen, dabei aber den Kopf nicht zu verlieren. Unser Selbst funktioniert als Ganzes, emotionale Erfahrungen sind immer mit körperlichen Erfahrungen verbunden. Deswegen können ungünstige Bewegungsmuster unsere Fähigkeit einschränken, unser Denken konstruktiv einzuschalten, wenn wir von starken Gefühlen beeinflusst werden.

Ich glaube, es ist eine gute Idee, wenn wir anfangen, der Bewegung des Lebens in uns in all seinen Formen noch mehr zu vertrauen. Denn erst dann haben wir eine echte Chance, die Richtung, in die sie uns trägt, mitzubestimmen.

 (Ende der Serie)

Gefühle in Bewegung (5): Gefühle sind Muskelarbeit

Sonntag, Oktober 2nd, 2011

Ich möchte nun einige konkrete emotionale Wirkungen zeigen, die zu erwarten sind, wenn sich die Bewegungskompetenz in eine bestimmte Richtung verbessert. Diese Wirkungen beruhen auf meinen persönlichen und beruflichen Erfahrungswerten als Alexander-Technik-Coach und sind selbstverständlich nicht für jeden genau gleich. Außerdem hat die Verbesserung des Bewegungsverhaltens die Tendenz, jene Gefühle zuerst zu Bewusstsein kommen zu lassen, deren muskuläre „Knebelung“ jüngeren Datums ist, während länger bestehende Fehlspannungen meist langsamer „auftauen“. So erleben Menschen, die etwa in ihrem beruflichen Alltag stark gestresst sind, durch eine Regulierung ihres Muskeltonus mal ein Gefühl der Leichtigkeit oder der Schwere, mal ein Gefühl der Energie oder der Müdigkeit, je nachdem, welches Bedürfnis den dringendsten Nachholbedarf hat.

In all dem, was ich jetzt beschreibe, geht es nicht darum, Gefühle durch Bewegungen zu provozieren, sondern durch Bewegung im ganzen Körper günstige Rahmenbedingungen für den emotionalen Prozess zu schaffen. Gefühle kommen von selbst – wenn wir sie nicht stören.

Knochen machen sicher: Wenn eine Person sich die unterstüztende Kraft ihrer Knochen vergegenwärtigt, dann erlebt sie meist ein Gefühl der Stabilität und damit der Sicherheit und Erdverbundenheit. Dies kann besonders in Stress-Situationen eine willkommene Unterstüzung sein.

Gelenke machen leicht und lustig: Wenn man sich die Dynamik der Gelenke bewusst macht und ihr in seinen Bewegungen folgt, dann tauchen fast von selbst Empfindungen der Leichtigkeit, der Freiheit und Wendigkeit, ja der Verspieltheit und Freude auf. Dies hebt nicht nur die Lebenslust, sondern ist in Situationen besonders hilfreich, in denen Sie viel Kreativität und mentale Beweglichkeit brauchen.

Muskeln machen gelassen und kraftvoll: Das Bewusstsein für die wechselnde Spannung der Muskeln erzeugt oft ein Erleben von Gelassenheit, zugleich aber auch von Macht und Wirksamkeit. Dabei ist aber notwendig, die Muskeln nicht nur in ihrer Fähigkeit zur Anspannung anzusprechen, sondern auch zur Entspannung. Besonders wenn wir arbeiten oder sonst aktiv sind, ist es für unsere Ausgeglichenheit und innere Ruhe entscheidend, dass unsere Muskeln nicht nur Macher sind, sondern auch mal abwarten und Spannung abbauen können.

Gehen wir nun einen Schritt weiter. Bewegung entsteht ja nicht aus dem zufällig gleichzeitigen Wirken vereinzelter Teile, sondern aus einem koordinierten Zusammenspiel. Unser Körper ist wie ein Orchester, das aus verschiedenen Instrumenten besteht, die von einem Dirigenten – unserem Denken – gelenkt werden. Dabei spielen die verschiedenen Körperteile eine besondere Rolle.

Der Kopf sitzt oben auf und ist der Souverän, von dem die Selbstbehauptung ausgeht. Hier ist ein wichtiges Wahrnehmungs- und Kommunikationszentrum. Der Kopf balanciert in bester Lage mit Weitblick und Umsicht, er ist wesentlich für unser Gleichgewicht und unsere Orientierung im Raum.

Die Wirbelsäule ist die strukturierende Achse, die uns trägt und einen Organraum schafft, in dem die weichen Organe Platz und Halt finden. Sie ist zugleich eine Kommunikationspipeline, die alle Botschaften vom Gehirn zur Peripherie und auch wieder zurück leitet.  Der Rumpf ist ein großer Organraum, mit einer Besonderheit im oberen Teil, dem Brustkorb. Er schützt nicht nur Herz und Lungen, sondern sorgt mit den ryhthmischen Bewegungen der Rippen für die Grunddynamik der Atembewegung – eine elegante Lösung, wenn man bedenkt, dass die Atmung sensibel auf bewegungsbedingte Veränderungen im Sauerstoffbedarf  reagieren muss.

Die Beine und Füße dienen der beweglichen Unterstützung und der Fortbewegung. Der Körper balanciert auf relativer kleiner Grundfläche, was ihm das Gehen erleichtert, denn das Körpergewicht kann leicht als Bewegungsmotor eingesetzt werden. Im aufrechten Stand ist alles, was wir zu tun haben, um von der Stelle zu kommen, loszulassen und schon setzt sich der Körper in Bewegung. Schultern, Arme und Hände haben keine direkte Fortbewegungsfunktion und genießen deswegen alle Freiheit, Kontakt mit Gegenständen und Menschen aufzunehmen, zu spüren, zu tasten, zu gestalten und formen.

Diese funktionellen Bewegungsregionen sind für unsere Gefühle von Bedeutung. Becken, Beine und Füße vermitteln Stabilität und damit Sicherheit. Die Arme und Hände geben uns eine Gefühl von Freiheit und Gestaltungskraft. Es ist ein gutes Gefühl, „freie Hand“ zu haben. Wer zuviel Last auf den Schultern trägt, fühlt sich gedrückt. Der Kopf hoch oben vermittelt Präsenz und Souveränität. Zusammen mit der Wirbelsäule erschließt der Kopf uns Selbstbewusstsein und Stärke. Wer mit seinem  Atem im Kontakt ist, erlebt seine Gefühle differenzierter und tiefer. Wer seine Augen fließend bewegt und den besonders in Stress-Situationen so typischen „starren Blick“ vermeidet, der erlebt eine gesunde Distanz zum Geschehen und zum eigenen Handeln.

All diese speziellen Wirkungen beruhen darauf, dass wir im Körperganzen gut koordiniert sind. Die Aufmerksamkeit für das dynamische Zusammenspiel der Körperteile und ihre effizienten Steuerung erzeugt ein Erleben von guter Kontrolle, Sammlung und Klarheit. Man fühlt sich ausgeglichen, aufgeräumt und handlungsbereit.

Aufs Ganze gesehen, vermittelt uns gute Bewegung eine grundlegende Erfahrung, die auch für unser Gefühlsleben wichtig ist. Ich spreche von der Erfahrung, dass ein Mensch sich den Raum nehmen kann, den er braucht. Jeder Mensch braucht Raum für sich und sein Denken und Handeln. Wir müssen „aufgehen“ können in dem, was wir tun. Wir müssen uns ungehindert „gehen lassen“ dürfen. Jeder Prozess der Entwicklung und Entfaltung sowohl körperlich als auch geistig setzt raumgreifende Bewegungen voraus. Angst ist mit einem Zusammenziehen und Verengen des Körpers verbunden, Vertrauen hingegen mit einer Ausdehung des Körpers in den Raum hinein. Wer Ängste überwinden will, wird es deswegen wertvoll finden, sich in seinen Bewegungen ausreichend Raum zu geben.