Archive for September, 2012

Gefühltes Wissen

Donnerstag, September 13th, 2012

Ich wache auf. Zuerst sind da nur unbestimmte Eindrücke: das Gefühl irgendwie verknotet zu liegen, es ist warm und ich habe Durst. Der nächste Gedanke: irgendwas ist schwierig. Und als eine Stimme mich erinnert, dass es jetzt Zeit aufzustehen ist, weiß ich bereits: Ich habe gar keine Lust aufzustehen, ich könnte mich am liebsten einfach nur wegdrehen und weiterschlafen.

Seltsam, dass wir wissen können, ohne verstehen zu müssen. Wir können wissen, dass es uns gut geht, ohne zu verstehen, warum. Wir können auch wissen, dass wir unglücklich sind, dass es ein Problem gibt, dass eine Gefahr droht oder etwas Wunderbares passieren wird, ohne dass wir uns erklären könnten, warum wir das so sicher wissen. Wir wissen es einfach.

Wir können diese Art des Wissens gefühltes Wissen nennen. Es bildet die Basis unserer Wirklichkeitserfahrung. Unsere Sinnesorgane liefern die Empfindungen und sensorischen Eindrücke, dann kommen irgendwie noch Vorstellungen und Gefühle dazu. Das Bewusstsein „schwimmt“ in dieser Suppe aus Körperempfindungen, Gefühlen und Gedanken. Der Verstand mag noch sehr die eigentliche Bedeutung dieser Erfahrung durchdringen wollen, es kann ihm nie ganz gelingen. Denn der Verstand schwimmt ja mit, er ist Teil des Bewusstseinsprozesses. Der Verstand kann nur so tun, als würde er das Ganze mal von außen anschauen. Er kann Distanz simulieren, ohne sie je echt verwirklichen zu können.

Die erste Aufgabe in jeder Art von bewusster Lebensgestaltung ist, sich mit dem eigenen gefühlten Wissen anzufreunden. Das bedeutet nicht, dass wir alles glauben müssen, was dieses Wissen uns erzählt. Wir können nämlich beobachten, dass es voller Irrtümer, Fehlschlüsse und einengenden Konditionierungen ist.  Dennoch ist das gefühlte Wissen zugleich unser wichtigster Schatz. Es steckt voller Weisheit, Intuition und Schönheit. Was immer wir in unserem Leben verändern, entdecken und entfalten wollen – wir können dies nur im Dialog mit unserem gefühlten Wissen tun.

Über das Risiko, sich sicher fühlen zu wollen

Samstag, September 8th, 2012

In einem alten Gruselfilm entdecken Polarforscher tiefgefroren im Eis ein unbekanntes Wesen. Neugierig verfrachten sie den Eisblock samt Inhalt in ihre gut geheizte Forschungsstation. Es dauert Tage, bis der mächtige Eisblock abtaut, und siehe da, das eingeforene Wesen erwacht zum Leben und zeigt sich als fieses Monster, das nichts anderes im Sinne hat, als Polarforscher anzugreifen. Und so zieht sich der Film in düsterem Schwarzweiß seine 90 Minuten hin, bis das Monster besiegt und die Forscher in Sicherheit sind.

Ich glaube, mir fiel der Film wieder ein, als ich irgendwo las, dass Muskelblockaden „abtauen“ und „schmelzen“ müssen, damit die darin gebundene Energie wieder frei fließen kann. Was aber wird frei, wenn das zuvor Gebundene entfesselt, das Gehaltene gelassen und das Eingefrorene abgetaut wird? In meiner spontanen Fantasie tauchte da gleich das Bild von dem Monster aus dem Eis auf – und brachte mich zum Nachdenken.

Die Angst vor dem Unbekannten ist der Stoff unzähliger Filme, Geschichten und Mythen. Die Angst davor, was passiert, wenn wir es wagen, das Eis abzutauen. Und allzu oft transportieren sie diese Warnung, dass es gefährlich ist, sich zu weit hinauszuwagen, denn „da draußen“ lauert das Böse: der Wolf im dunklen Wald, der Alien im Weltraum, das Monster im Eis. Und wir fallen immer wieder darauf herein. Wir meinen, wir sind in Sicherheit, hier in unserem Leben, wie wir es kennen, und es kann uns erst richtig was Schlimmes passieren, wenn wir unser gewohntes Leben verlassen. So als wäre hier – in uns selbst, in unserem vertrauten Lebensumfeld – alles in Ordnung und unter Kontrolle. Wehe dir, wenn du es wagst, deine Sicherheit aufzugeben!

Da fällt mir jetzt das Märchen von dem Esel, dem Hund, dem Hahn und der Katze ein, die –  nutzlos für den Menschen geworden – ihren sicheren Tod vor Augen haben und beschließen, abzuhauen und was ganz Verrücktes zu machen, nämlich Stadtmusik in Bremen. Die glorreichen Vier brechen auf, weil sie es nicht mehr aushalten. Das Böse droht ihnen nicht da draußen, sondern hier. Und so machen sie sich verzweifelt-mutig auf die Reise. Ihr Motto: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“

Die Bremer Stadtmusikanten kommen nicht in Bremen an, aber das macht nichts, denn sie finden was viel Besseres: ein schönes Häuschen im Wald, das sie einer Räuberbande mit gezieltem Terror abluchsen. Indem sie sich – der Esel unten, dann der Hund, darauf die Katze und oben der Hahn – zu einer großen Gestalt aufrichten, jagen sie den Räubern eine Heidenangst ein und vertreiben sie aus dem Häuschen im Wald. Die Bremer Stadtmusikanten führen eine Parodie des bösen Monsters auf, und die Räuber fallen darauf herein.

Dieses wunderbare Märchen klärt uns darüber auf, dass das Gefährliche nicht so sehr jenseits des bekannten Lebens beginnt, sondern bereits hier und jetzt, genau hier, wo wir es uns in unserem Leben so gut eingerichtet haben. Wir projizieren unsere Ängste und Nöte gerne in „die böse Welt da draußen“ und kaschieren damit die untergründige Nähe und Gegenwart all des Gefesselten und Eingefrorenen in uns. In diesem Zustand sind wir wie die Räuber im Wald: wir sehen Gespenster, wo keine sind.

Wir halten an unseren Sicherheiten fest und spüren gar nicht mehr, wie sie uns einengen und die Luft zum Atmen rauben. Wir erfinden die Monster im Eis, die bösen Außerirdischen und die Terroristen, weil wir Angst haben, aber nicht zugeben wollen, dass es unser eigenes Leben ist, das uns Angst macht – dass wir selbst es sind, die uns erschrecken.